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Bistum Essen

Brief des Bischofs zu den Missbrauchsvorwürfen gegen Kardinal Hengsbach vom 22.09.2023


Liebe Schwestern und Brüder,

in der vergangenen Woche sind Missbrauchsvorwürfe gegen den Gründerbischof des Bistums Essen, Franz Kardinal Hengsbach, auf meine Entscheidung hin veröffentlicht worden. Dies geschah nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse und vielen internen Beratungen. Die Vorwürfe sind gravierend. Viele von Ihnen sind schockiert oder auch verzweifelt, weil der Schrecken der sexuellen Gewalt in unserer Kirche kein Ende nimmt – und nun einen weit über das Ruhrbistum hinaus lange Zeit verehrten Bischof und Kardinal betrifft. Zugleich erreichen mich auch viele kritische Fragen zu dem, was geschehen ist und wie ich selbst damit umgegangen bin.

Bei der Vorstellung der Sozialwissenschaftlichen Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen hatte ich im Februar gesagt, dass wir in unserem Bistum angesichts der massiven Versäumnisse in der Vergangenheit ehrlich sein müssen. Dieser Anspruch ist mir persönlich wichtig. Deshalb will ich Ihnen heute offen eingestehen, welches Versäumnis ich mir selbst anlasten muss.

Im August des Jahres 2011 habe ich durch das Erzbistum Paderborn von einem Missbrauchsvorwurf gegen Kardinal Hengsbach erfahren. Der Vorwurf betraf die Zeit, in der Franz Hengsbach noch Weihbischof in Paderborn war. Dieser Vorwurf wurde in Paderborn bearbeitet und der Kongregation für die Glaubenslehre zur Prüfung vorgelegt. Später wurde ich mündlich darüber informiert, dass die Vorwürfe als nicht plausibel bewertet worden waren. Daraufhin unternahm ich nichts weiter, denn ich sah den Fall als bearbeitet an. Deshalb sah ich auch keinen Anlass, auf diesen Vorgang das Forschungsteam der IPP-Aufarbeitungsstudie aufmerksam zu machen, zumal der Vorwurf sich auf die Zeit vor der Gründung des Bistums Essen bezog.

Im März dieses Jahres erhielt ich die Mitteilung über einen Missbrauchsvorwurf gegen Kardinal Hengsbach aus dem Jahr 1967. Ich veranlasste daraufhin eine Kontaktaufnahme mit dem Erzbistum Paderborn, dem Herkunftsbistum von Kardinal Hengsbach, um gemeinsame Recherchen vorzunehmen. Mit dem Wissen um den aktuellen Fall ist der Vorwurf aus dem Jahr 2011 aus gutem Grund vollkommen neu zu bewerten.

Im Ergebnis muss ich nun eingestehen, dass die Vorwürfe im Jahr 2011 falsch eingeschätzt wurden und den Betroffenen Unrecht geschehen ist. Zugleich habe ich Anlass zu der Befürchtung, dass es weitere Betroffene geben könnte, die sich bislang nicht gemeldet haben – auch aus der Angst heraus, dass ihnen nicht geglaubt wird, wie das in unserer Kirche viel zu lange und viel zu oft der Fall gewesen ist.


Vor diesem Hintergrund betrachte ich es aus heutiger Sicht als persönlichen Fehler, nach der Mitteilung über die Bewertung der Glaubenskongregation letztlich die damals vorliegenden Beschuldigungen als erledigt anzusehen. Das führte dann in der Folge zu dem Versäumnis, die Forscherinnen und Forscher des IPP nicht über die Vorwürfe aus dem Jahr 2011 zu informieren. Auch wenn es sich um einen Fall aus der Zeit vor der Bistumsgründung handelte, wäre dieses Hintergrundwissen für die Aufarbeitungsstudie sehr wichtig gewesen.

Das führte damals leider auch dazu, dass ich die damalige Missbrauchsbeauftragte unseres Bistums im Jahr 2011 nicht darüber informierte. So kam es, dass sie im August des Jahres 2011 die Anfrage einer Behörde in einer Versorgungsangelegenheit verneinte, ob dem Bistum Essen Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Hengsbach bekannt seien. Das entsprach ihrem Wissensstand und darf ihr nicht angelastet werden.

Ich denke heute viel darüber nach, warum ich bei all meinen damaligen Bemühungen, Missbrauch aufzuklären, zu solchen Fehleinschätzungen gekommen bin, die dann auch zu Fehlern geführt haben. Gerade hinsichtlich unserer Aufarbeitungsstudie ist mir heute deutlich geworden, dass ich nach den Standards damaliger Zeit handelte, die sich aus heutiger Sicht als vollkommen ungenügend darstellen. Ich stellte die Bewertung, der zufolge die Missbrauchsvorwürfe nicht plausibel seien, selbst nicht infrage. Das war falsch. Ich konnte auch nicht glauben, dass ein geschätzter Kardinal, der zugleich mein Vorgänger im Bischofsamt war, anderen Menschen furchtbares Leid zugefügt haben könnte.

Dass ich damit dem Muster folgte, dem Schutz des Ansehens eines kirchlichen Würdenträgers Vorrang zu geben und die betroffenen Menschen nicht hinreichend zu sehen, war mir damals nicht bewusst. Das ist es, was ich gelernt habe, weiter vertiefen möchte und was für uns alle in unserer Kirche gilt: Die Perspektive der von sexueller Gewalt betroffenen Menschen muss im Mittelpunkt stehen und uns in unserem Handeln leiten. Danach will ich jetzt hier weiter mein Handeln ausrichten. Darum liegt mir daran, diesen gesamten Vorgang umfassend und unabhängig aufzuarbeiten. Dazu suche ich den Kontakt mit der sich gerade konstituierenden Aufarbeitungskommission und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des IPP. In den letzten Tagen hat es dazu bereits erste Gespräche gegeben.

Wir werden dafür sicher noch Zeit benötigen, weil jetzt vor allem eines Vorrang hat: Wir befürchten, dass es weitere Betroffene geben könnte. Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt durch Kardinal Hengsbach erlitten haben, dann wenden Sie sich bitte an die beauftragten Ansprechpersonen im Bistum Essen. Das Gleiche gilt auch, wenn Ihnen Hinweise bekannt sind, die für die weitere Aufarbeitung hilfreich sein können. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger in unserem Bistum können Ihnen die Kontaktdaten gerne nennen. Sie finden diese ebenfalls auf der Internetseite des Bistum Essen.

Es ist wichtig, dass Betroffene von ihrem Leid erzählen können – auch nach langer Zeit. Ich bitte zugleich um Verständnis, dass ich Ihnen zu den Vorwürfen, die uns aktuell vorliegen, keine weiteren Einzelheiten nenne. Die betroffene Person möchte geschützt bleiben. Das gilt es unbedingt zu respektieren. Und ebenso möchte ich allen, die sich an unsere Ansprechpersonen wenden, strikte Vertraulichkeit zusichern.

Mir ist bewusst, dass es jetzt viele weitere Fragen zur Person des Gründerbischofs unseres Ruhrbistums gibt, der als bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit im Ruhrgebiet gewürdigt wurde. Diesen Fragen stellen wir uns. Die IPP-Studie hatte ja bereits aufgedeckt, dass gerade während der Amtszeit von Bischof Hengsbach zahlreiche, schwerwiegende Missbrauchsfälle zu beklagen sind und in dieser Zeit Betroffene mit ihrem Leid überhaupt nicht gesehen wurden. Missbrauchstäter dagegen wurden geschützt. Die jetzt im Raum stehenden Vorwürfe gehen noch weit darüber hinaus.

Darum unterstütze ich ausdrücklich die Überlegung des Domkapitels, das Denkmal des Gründerbischofs in unmittelbarer Nähe des Domes zu entfernen. Zur Demut, die unsere Kirche zu lernen hat, gehört nun auch die Zurückhaltung mit Denkmälern, die wir für einzelne Menschen errichten.

Ich bitte Sie nun alle um Entschuldigung für meine Fehler. Ich will weiterhin ein lernender Bischof sein – mit Ihnen allen in unserem Bistum gemeinsam. Und so bitte ich Sie darum, dass wir weiterhin gemeinsam mit gegenseitigem Vertrauen und Zutrauen auf dem Weg bleiben – in dem Wissen, dass wir alle miteinander Menschen sind, die Lernende und Suchende bleiben.

In herzlicher Verbundenheit grüße ich Sie

Ihr

Franz-Josef Overbeck



Informationen des Bistums zu Prävention und Hilfe bei sexualisierter Gewalt und Missbrauch finden Sie hier.